Verblüffend, wie vielschichtig unsere Sprache ist. Als Texter bin ich immer wieder überrascht von den Facetten bestimmter Wörter. „Wirklichkeit“ zum Beispiel – ein Wort, das zum Erkunden einlädt und im Gegensatz zur „Realität“ Perspektiven schafft.
Aber der Reihe nach.
Die Realität – realistisch betrachtet.
„Realität“ ist ein Wort mit unangenehmem Beigeschmack. Sie ist eine Zuchtmeisterin: Der Realität hat man sich zu beugen. Pläne scheitern an der Realität. Die Realität holt uns ein (was nie Gutes bedeutet). Ganz realistisch betrachtet ist die Realität eine echte Unsympathin, autoritär und unbeugsam wie der Trainer eines sozialistischen Olympia-Kaders. Ein Fels der Fantasielosigkeit in der Brandung der Alternativen.
Die Wirklichkeit: alles, was wirkt.
Ganz anders die Wirklichkeit. In ihr steckt das Verb „wirken“. Die Wirklichkeit beschreibt die Auswirkungen unserer Gedanken und Handlungen. Unsere Zivilisation ist nicht einfach vom Himmel gefallen, sondern die Neuauflage von Zivilisationen, die längst Geschichte sind aber heute noch nachwirken. Die Wirklichkeit beginnt beim Urknall. Davor gab es nichts. Nicht einmal Realität.
Das älteste Licht des Universums wirkt noch heute: als Cosmic Microwave Background (CMB). Es entstand 380.000 Jahre nach dem Urknall und brauchte 13,7 Milliarden Jahre, um die Erde in Form von Mikrowellen zu erreichen, wo deren Muster vom Fotokünstler Chris Tille in monumentalen Bildwerken sichtbar gemacht wurden. Sie helfen Wissenschaftlern, die Geschichte des Universums zu verstehen.
„Batman, es gibt dich wirklich!?!“
Die Wirklichkeit ist der Ort zur Verwirklichung von Träumen. Fantasie wird Wirklichkeit, wenn Superhelden in den Köpfen des Publikums „wirken“ und zum festen Bestandteil der Popkultur werden.
Die Realität hat mit Fantasie nicht viel am Hut; erst die Wirklichkeit ermöglicht es Träumen Realität zu werden: DC Comics, Marvel und Disney sind längst weltweite, milliardenschwere Wirtschaftsimperien. Geld schafft Realität. Sie ist die einfältige, materialistische Schwester der Wirklichkeit.
Realität ist das mentale Guantanamo für Fantasiebefreite, die Dogmen und Begriffe wie „alternativlos“ unwidersprochen hinnehmen.
Die Wirklichkeit hingegen ist die Kreativ-Spielwiese von Machern, die immer neue Wege finden, um die Realität zu ihren Gunsten zu nutzen und bei Bedarf auszutricksen.
Mal wirklich: Ist unsere Sprache nicht toll?
Beim nächsten Mal geht es dann um das wunderbare Wort „Ausscheidungskämpfe“.